(21.12.2022, Pressemitteilung ruhrgebietskonferenz-pflege.de)
Im Schatten der großen Krisen unserer Tage hat sich die Situation der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen in Deutschland in den vergangenen Wochen massiv verschärft. Und der Ausblick auf das neue Jahr lässt auch nicht auf bessere Zeiten hoffen. Das ist das Resümee der Ruhrgebietskonferenz-Pflege zum anstehenden Jahreswechsel. Ulrich Christofczik, Vorstand des Christophoruswerkes und Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Duisburg zitiert Brecht, um die Lage zu beschrieben: „Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht. Und man sieht die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Für den Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege beschreibt dieses Zitat aus der Dreigroschenoper, was die Menschen gerade in der ambulanten und stationären Langzeitpflege hautnah erleben. „Patienten auf Krankenhausgängen kann man gut ablichten und schon verteilen Gesundheitspolitiker medienwirksam Millionen für neues Personal, von dem niemand weiß, wo es eigentlich herkommen soll. Aber Frau Meier aus dem siebten Stock in Duisburg Marxloh sieht niemand und die wird von unserem Gesundheits- und Pflegesystem schlicht links liegen gelassen“, macht Ulrich Christofczik seinem Ärger Luft.
Aufnahmestopps und Betriebsschließungen
Seit Wochen schon berichten Träger und Dienste von unsichtbaren Warteschlangen vor ambulanten Diensten. In der häuslichen Pflege und Betreuung herrscht Unterversorgung, die klar zu Lasten der Betroffenen und deren Angehörige geht. Gründe dafür sind der akute Personalmangel, der ja fast alle Branchen erreicht hat und eine Welle von Betriebsschließungen. Zahlreiche Anfragen an ambulante Pflegedienste laufen tagtäglich sprichwörtlich in Leere. Selbst große ambulante Dienste haben schon seit Wochen einen Aufnahmestopp erklären müssen, weil ihnen für die Aufnahme neuer Patient*innen schlicht das Personal fehlt. Kleinere Dienste streichen vielerorts schon die Segel. Roland Weigel, Koordinator der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, berichtet: „Allein im Ennepe-Ruhr-Kreis sollen in diesem Jahr sieben ambulante Dienste vom Markt gegangen sein.“ Grund dafür sind steigende Kosten, die über die ausgehandelten Vergütungen mit den Kranken- und Pflegekassen nicht refinanziert werden. Thomas Eisenreich vom bundesweit tätigen Betreuungsdienstleister Home-Instead und ebenfalls Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege: „Wir sind gesetzlich verpflichtet, bis zu 30% höhere Löhne zu zahlen, dann muss aber klar sein, dass die Kostenträger diese Lohnsteigerungen in Vergütungsverhandlungen auch akzeptieren. Wir wollen eine bessere Bezahlung von Pflege- und Betreuungskräften, aber dann muss auch klar sein, dass diese Mehrkosten von den Pflegekassen anerkannt werden. Wir streiten uns aktuell in über 50 Verfahren in NRW mit den Kassen, um die Mehrkosten refinanziert zu bekommen. Kleine und mittlere Pflegedienste sind dazu überhaupt nicht in der Lage. Die werden im nächsten Jahr reihenweise in die Insolvenz gehen. Nur wissen diese bisher noch gar nicht, dass sie die unzureichende Refinanzierung in den Ruin führt“
Kampf gegen ein dauerhaftes Defizit führt in die Insolvenz
Martin Behmenburg vom ambulanten Dienst Pflege-Behmenburg GmbH in Mülheim an der Ruhr hat gerade einen 10%igen Zuschlag für die Leistungen der Pflegeversicherung verhandelt. „Das reicht aber hinten und vorne nicht aus, weil wir auch noch Leistungen der Krankenversicherung zu erbringen haben. Da sind die Sätze aber nur um 4,5 % gestiegen. Gleichzeitig müssen wir gesetzlich vorgeschriebenen Lohnkostensteigerungen von 20% umsetzen. So wird ambulante Pflege zu einem Kampf gegen ein dauerhaftes Defizit. Das kann kein Unternehmen lange durchhalten! Woher soll da die Motivation kommen, weiter zu machen?“
Stationäre Einrichtungen sind auch keine Alternative
Auch in der stationären Pflege können schon längst nicht mehr alle Menschen bedarfsgerecht versorgt werden. „Wir müssen täglich unzählige Anfragen ablehnen und die Menschen vertrösten. Da spielen sich am Telefon echte Tragödien ab“, beschreibt Ulrich Christofczik. Nach dem zehnten oder elften vergeblichen Anruf beim ambulanten Pflegedienst wenden sich die Menschen an die stationären Einrichtungen. „Nur leider sind die Heime auch voll ausgelastet“, konkretisiert Christofczik.
Betten in Pflegeheimen bleiben leer
Wobei das auch nur bedingt zutrifft. Inzwischen lassen nämlich immer mehr Altenhilfeträger vorübergehend Betten leer stehen. Ihnen fehlen schlicht immer häufiger die Mitarbeitenden, um eine qualitativ gute Versorgung sicherzustellen. Wie viele Plätze tatsächlich gerade nicht belegt werden, weiß so genau niemand. Roland Weigel hat aber eine ungefähre Einschätzung: „Es gibt zwar keine validen Daten, aber die bisherigen Rückmeldungen dazu lassen annehmen, dass wir gerade bis zu 10% der vorhandenen Pflegebetten in stationären Einrichtungen wegen Personalmangel nicht belegen können.“
Wie macht man Pflege bezahlbar und gut bezahlt zugleich?
Für die Ruhrgebietskonferenz-Pflege ist die Gesamtsituation Ausdruck eines umfassenden und langjährigen Politikversagens. Seit Jahren werden auf hochkarätig besetzten Tagungen und Kongressen Prognosen veröffentlicht und vollmundig Reformen angekündigt. „Wir fordern schon lange eine umfassende Pflegereform, mit der die Finanzierung für alle Akteure auf verlässliche Füße gestellt wird, damit Pflege bezahlbar bleibt und trotzdem gut bezahlt werden kann“, bringt Ulrich Christofczik die Kritik der Ruhrgebietskonferenz-Pflege auf den Punkt. In diesem Jahr sind die Einrichtungseinheitlichen Eigenanteile nach Daten des VDEK um 21,5 % gestiegen. „Diese Entwicklung nehmen wir durchschnittlich in unserer Region auch wahr“, bestätigt Sebastian Schwager von der Diakonie Gladbeck-Bottrop-Dorsten. Dazu kommen dann noch Kostensteigerungen im Bereich von „Unterkunft und Verpflegung“. Auch hier nennt Sebastian Schwager konkrete Zahlen: „Unsere Kosten für die Verpflegung werden im kommenden Jahr um 19 % steigen. Wir könnten bestimmt sparen, aber nur zu Lasten der Qualität. Das wollen und können wir den Bewohner*innen nicht zumuten.“
Kostensteigerung in Raten verschleiert steigendes Armutsrisiko
Im nächsten Jahr müssen die Bewohner*innen in stationären Einrichtungen mit weiter deutlich steigenden Eigenanteilen rechnen. Roland Weigel dazu: „Die Steigerungsraten sind sehr unterschiedlich und hängen von zahlreichen trägerspezifischen Faktoren ab. Die Spannbreite bewegt sich zwischen 200 und 800 Euro pro Bewohner*in und Monat.“
Für Ulrich Christofczik ist klar, dass Pflegebedürftigkeit immer mehr zum Armutsrisiko wird. „Mit der Kostensteigerung in Raten wird das Armutsrisiko bewusst verschleiert. Im Jahr 2024 werden die so genannten „Spahnstellen“, die bisher zusätzlich finanziert wurden, pflegesatzrelevant. Dann steigen die Eigenanteile noch einmal um mindestens 200 Euro pro Bewohner*in und Monat. Bei uns werden Ende 2023 über 90 % der Bewohner*innen Sozialhilfe beziehen müssen, weil die Kosten die finanziellen Möglichkeiten unserer Bewohner*innen und deren Angehörigen übersteigen.“
Wirtschaftsstandort NRW gefährdet
In der ambulanten Pflege und Betreuung fallen die Eigenanteile nicht direkt auf, da viele Familien bei fehlenden finanziellen Spielräumen einfach wieder mehr Leistungen selbst in die Hand nehmen. Damit fällt die dringend notwendige Entlastung von pflegenden Angehörigen aus. Im Gegenteil: viele Angehörige im berufsfähigen Alter geben dann lieber den Arbeitsplatz auf oder reduzieren ihre Arbeitszeit drastisch. „Damit entsteht eine doppelte Fachkraftlücke“, so Thomas Eisenreich. „Einerseits fehlt das Personal in der Pflege und die pflegenden Angehörigen fehlen den Betrieben als Arbeitskräfte. Damit wird der Wirtschaftsstandort NRW gefährdet“.
Ursachen liegen im System
Ulrich Christofczik zieht Bilanz mit dem Blick nach vorn: „Wir brauchen endlich eine Gesundheits- und Pflegepolitik, die sich ernsthaft und wirksam mit dem Abbau des Arbeitskräftemangels und einer langfristigen Finanzierungsperspektive beschäftigt. Pflegepolitik ist mehr als Pandemiebekämpfung und das Stopfen von Finanzierungslücken. Es macht auch keinen Sinn, die einzelnen Leistungsbereiche gegeneinander auszuspielen und jetzt zu priorisieren. Letztes Jahr waren es die Intensivstation und jetzt sind es die Kinderkliniken. Die Ursachen und der Anpack für Lösungen liegen im System. Das muss endlich grundlegend reformiert werden!“